Zwischen allen Stühlen
„Zappelig, immer in Bewegung“, „unvorhersehbares Verhalten, fasst einen Entschluss und führt ihn blitzschnell aus, ohne an die Folgen für sich und andere zu denken“, „platzt in der Klasse mit der Antwort heraus, bevor die Frage vollständig gestellt wurde“, „mischt sich nachhaltig und störend in Erwachsenengespräche ein“, „ständiges Streben nach sofortiger Belohnung und sofortiger Bedürfnisbefriedigung“, „generelle Probleme bei der Steuerung des eigenen Verhaltens zu Hause und in der Schule“. Es gibt sicher viele Kinder mit einem sehr ausgeprägten Bewegungsdrang, der sich in einer anhaltenden und oft störenden Unruhe bemerkbar macht. Aber nicht jedes Kind, das ein „hyperkinetisches“ Verhalten zeigt, leidet an einer hyperkinetischen Störung im eigentlichen Sinne (AD(H)S).
Die kindliche Hypermotorik ist eine Störung, die sich in unseren westlichen, abendländischen Gesellschaften zu entwickeln scheint. Die immer komplexer werdende Gesellschaft erzeugt immer größere, genauere und ausgearbeiteter Anforderungen. Die Eltern empfinden das und drücken es in ihrem Verhältnis zur Schule aus, von der sie vor allem erwarten, dass sie ihre Kinder zum Erfolg führt. Aber in unserem ökonomischen Kontext zielt dieser Erfolg mehr auf das Haben als auf das Sein, mehr auf das Erwerben abfragbaren Wissens als auf die Entwicklung einer unverwechselbaren Identität und dem Gleichgewicht der Persönlichkeit. In einer vorwiegend auf Gewinnmaximierung und ökonomischer Verwertbarkeit ausgerichteten, einseitig die Flexibilisierung und Fragmentierung der Arbeit fördernden, Gesellschaft werden die Persönlichkeitssubstanzen aufgelöst, Bindungserfahrungen und Empathiefähigkeit nachhaltig beschädigt. Für eine gesunde Entwicklung eines Kindes spielen jedoch Bindungserfahrungen in den ersten Lebensjahren eine besondere Rolle.
Gelungene frühe Bindungserfahrungen zeigen sich unter anderem in der Entwicklung überwiegend sicherer Bindungsmuster. Unter schwierigen frühen Lebensbedingungen können unsichere, ambivalent-vermeidende oder desorientierte Bindungsmuster entstehen.
Diese Kinder haben eher Schwierigkeiten mit Belastungen, Frustrationen und Versagungen umzugehen. Es kommt zu Schwächen der Selbst- und Affektregulierungen – sie können ihre Anspannungen und Ängste nicht bewältigen, sondern müssen diese abwehren und unterdrücken. Dieser Prozess kann zu den bekannten Symptomen wie Bewegungsunruhe, übersteigerte Impulsivität und Aggressivität, emotionaler Rückzug, Träumerei führen. Die motorische Unruhe stellt häufig einen Reizschutz dar, eine Abwehr schmerzhafter Ängste und Konflikte. Durch In-Aktion-Bleiben werden unerträgliche Traurigkeit und Leeregefühle – die zum Beispiel durch den Verlust eines Elternteils entstehen – abgewehrt. Die motorische Unruhe lenkt zusätzlich vom Inneren des Kindes ab. Der psychische Konflikt wird unkenntlich gemacht und der Eindruck vermittelt, es handele sich um einen hirnorganischen Defekt, der mit der Psyche nichts zu tun hat. In der Arbeit mit motorisch unruhigen Kindern fällt auf, dass es schwer ist, über die vorhandenen Konflikte zu sprechen.
Die medikamentöse Behandlung scheint bei der motorischen Unruhe noch immer im Vordergrund zu stehen, trotz aller Kritik an der Medikation mit Ritalin und den immer deutlicher werden Folgeschäden. Nur bei einer relativ kleinen Gruppe von Kindern, die im eigentlichen Sinne an einer hyperaktiven Störung leiden, kann die Gabe von Ritalin überhaupt in Betracht gezogen werden. Außerdem zeigt Ritalin nur bei 40% der Kinder, denen es verabreicht wird, die gewünschte Wirkung.
Die Ursache für die bemerkenswerte Zunahme „hyperkinetischen“ Verhaltens ist sicher nicht in der Neurologie der Kinder zu suchen, und die wohl beste Therapie ist derzeit schwer zu haben: Wohlwollen, Geduld und Gelassenheit, gepaart mit klaren pädagogischen Prinzipien und dem sicheren Gespür für das bestimmende Setzen schützender Grenzen.