Entgleister Dialog
Das „Unbehagen in der Kultur“, wie Freud es nannte, zeigt sich in unserer Gesellschaft in einer ganz realen Unsicherheit im Alltagsleben. Diese wiederum trägt dazu bei, dass eine wachsende Zahl von Problemen an Psychotherapeuten herangetragen werden. Natürlich führt ein Gefühl der Unsicherheit und Gefährdung zu Konflikten, was aber nicht heißt, dass das Problem in der Psyche begründet ist. Die individuelle Krise lässt sich als entgleister Dialog verstehen und ist häufig innerhalb einer allgemeinen Krise angesiedelt. Hierzu zählen:
- Die Autoritätskrise: all die Prinzipien, die es dem Erwachsenen ermöglichen, Kinder und Jugendliche zu erziehen und zu beschützen, sind heute ernstlich in Frage gestellt. In einer Gesellschaft, die Angst vor der Zukunft hat, können wir nicht mehr auf die gleiche Weise Menschen erziehen und betreuen wie in einer Gesellschaft, die an die Zukunft glaubt.
- In einer einigermaßen stabilen Gesellschaft endet die „Adoleszenzkrise“, sobald der Jugendliche eine gewisse Stabilität erlangt hat und ganz in die Gesellschaft eintritt, wenn er also sowohl auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene ein Konzept von Zukunft hat. Als eine Folge der Autoritätskrise lässt sich bei einigen Jugendlichen feststellen, dass sie Schwierigkeiten mit der gesellschaftlichen Realität haben.
- Die Bindungskrise: Unter dem Eindruck einer, als Kränkung erlebten, permanenten Notlage entwickelt sch das Gefühl, man müsse dringend versuchen, irgendwie davon zukommen. Angesichts der Aussichtslosigkeit, irgendetwas ändern zu können, ist wohl der Moment gekommen, alle Bindungen zu kappen, nach dem Motto: „rette sich wer kann.“ Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die sich frei von allen Bindungen glauben, in dem Gefühl leben, es herrsche Beliebigkeit und Ungerechtigkeit.
- Grenzenlosigkeit: Eine Gesellschaft, die aufs Geratewohl den Bereich des Machbaren ausweitet, gleitet unweigerlich in eine Welt ab, in der nichts mehr real ist, eine Welt, in der das Mögliche uneingeschränkt herrscht, was völlige Ohnmacht zur Folge hat. Gleichzeitig wird jungen Menschen eine ideologische Botschaft der Abschaffung sämtlicher Grenzen und Verbote vermittelt und dadurch Allmachtsträume geweckt.
Ziel einer Therapie ist es nicht, Menschen in einer Notlage „stärker“ zu machen als ihre Mitmenschen und damit dazu beizutragen, dass sie in einer verrohten Welt leben. Gemeinsames Ziel ist es, daran zu arbeiten, dass sie in der Lage sind, sich dieser Welt zu widersetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir diesem täglichen Konstrukt eines persönlichen Notstandes etwas entgegen setzen, indem wir es analysieren und in seine Einzelheiten zerlegen. Schon Freud ist jedoch zu dem Schluß gekommen, dass Bewusstmachung allein keine Heilung bewirkt. Vielmehr gilt es die Bindungen zu stärken, die die Menschen aus der Isolierung befreien, in die die Gesellschaft sie im Namen individualistischer Ideale verbannt und sie dabei zu begleiten, die Bindungen anzunehmen, die über das Gemeinsame entstehen, sei es im Hinblick auf andere, die Umwelt oder sich selbst.